Spoiler: Es ist komplizierter als „Folge deinem Traum“ – aber auch einfacher als „Du gehst damit sowieso pleite“

In meinen Coachings zur beruflichen Veränderung erlebe ich in sehr vielen Fällen, das mein Gegenüber sich fragt „Wäre eine Selbstständigkeit vielleicht auch eine Lösung?“ Gerade für Menschen, die in und an der digitalen Welt arbeiten, ist das oft naheliegend. Viele Berufe lassen sich selbstständig/freiberuflich ausüben.

Oft haben Klient:innen auch schon Zusatzausbildungen in anderen Bereichen gemacht (z. B. Coaching, Yoga und Co.) und überlegen: Kann ich daraus eine nebenberufliche oder volle Selbstständigkeit machen?

In den Gesprächen stellt sich in vielen Fällen raus: Meine Coachees schwanken beim Gedanken an die Selbstständigkeit oft zwischen zwei verschiedenen gedanklichen Extremen. Einerseits der rosaroten-Perspektive der Selbstständigkeit, die von Freiheit und Erfüllung und Latte-Macchiato im Co-Working-Space geprägt ist. Andererseits die Perspektive, dass sie auf jeden Fall unter der Brücke schlafen müssen, wenn das schiefgeht.

Die Wahrheit liegt meiner Meinung nach nicht nur dazwischen – sondern ist auch je nach Person sehr individuell. Im Coaching ist es mir wichtig, gemeinsam mit den Klient:innen die Mythen auf beiden Seiten aufzudecken und einen Realitätscheck zu machen: Was trifft eigentlich auf mich und meine Situation zu? Und warum ziehe eine Selbstständigkeit überhaupt in Erwägung?

In diesem Beitrag teile ich daher die häufigsten Mythen mit dir, die mir dabei so unterkommen und zeige dir einen Weg auf, wie du dich der Frage nähern kannst: „Selbstständigkeit – ja oder nein und wenn ja, wie?“

Die Erdbeerwelt-Falle: Wenn Selbstständigkeit zu schön klingt

Kennst du das auch? Du scrollst durch LinkedIn und siehst diese Posts: „Seit ich selbstständig bin, arbeite ich vom Bali-Beach und verdiene mehr als je zuvor!“ Oder du hörst Sätze wie „Endlich kann ich machen, was ich will!“

Von diesen „Erdbeerwelt-Mythen“ begegnen mir im Coaching so einige – und ja, Selbstständigkeit klingt verlockend. Gerade, wenn du in deinem Beruf sehr unzufrieden bist. Diese Mythen nicht zu hinterfragen, ist aber auch gefährlich.

Mythos 1: „Endlich sagt mir keiner mehr, was ich zu tun habe!“ Die Realität? Deine Kund:innen werden dir sehr genau sagen, was sie wollen. Und anders als bei deiner Führungskraft kannst du nicht einfach sagen: „Das steht nicht in meiner Jobbeschreibung.“ Du tauschst eine Führungskraft gegen viele – nur dass die jetzt „Kund:innen“ heißen.

Mythos 2: „Ich kann alles allein entscheiden!“ Das klingt erst mal fantastisch – endlich regiert dir keiner mehr rein! Bis du merkst: Du MUSST auch alles entscheiden. Welche Krankenversicherung schließe ich ab? Wie baue ich mein Angebot auf und wieviel Geld nehme ich dafür? Welche Stifte und welches Flipchartpapier kaufe ich? Welche Aufträge nehme ich an und welche nicht? Entscheidungsfreiheit heißt „Entscheidungsverantwortung“ – und wenn du allein startest, hast du auch kein Team oder keine Kolleg:innen, die die Entscheidung mittragen. Das kann auch anstrengend sein.

Mythos 3: „Ich arbeite von überall auf der Welt!“ Klar, theoretisch geht das. Aber ist das realistisch für dein Geschäftsmodell? Brauchst du vielleicht doch lokale Kontakte? Und abgesehen davon: Spätestens, wenn du deine Umsatzsteueridentifikationsnummer irgendwo eintragen musst – und das Dokument mit der Nummer zu Hause im Schrank liegt und du auf Fuerte am Strand – dann wirds kompliziert.

Mythos 4: „Ich gründe mein Herzensbusiness und werde damit automatisch erfolgreich!“ Das ist der gefährlichste Mythos von allen. Dein Herzensbusiness funktioniert nur dann, wenn es auch ein Problem löst – und zwar eines, für das Menschen bereit sind zu bezahlen. Die Schnittmenge zwischen „Was mir Spaß macht“ und „Wofür Menschen Geld ausgeben“ zu finden, ist eine Kunst für sich.

Die Schwarzmalerei-Falle: Wenn Selbstständigkeit zu beängstigend klingt

Auf der anderen Seite gibt es die Fraktion der Bedenkenträger, die Selbstständigkeit als den sicheren Weg ins Verderben sehen:

Mythos 5: „Selbst und ständig – du arbeitest 80 Stunden die Woche!“ Das kann passieren – muss aber nicht. Die Frage ist hier: Wie möchtest du es gerne? Und wie kannst du das für dich und mit deinen Mitteln erreichen? Keiner sagt, dass du in der Selbstständigkeit am Wochenende oder an Feiertagen zwingend arbeiten musst. Wenn du das nicht möchtest, gilt es, einen Weg und ein Geschäftsmodell zu finden, das dir das ermöglicht.

Mythos 6: „Du gehst ein riesiges finanzielles Risiko ein!“ Das kommt ganz auf deine Situation und dein Geschäftsmodell an. Wenn du als Beraterin startest und nur einen Laptop brauchst, ist das Risiko überschaubar. Wenn du direkt ein Startup mit Angestellten gründen willst, sieht das Ganze anders aus. Risiken lassen sich minimieren: Du kannst in Teilzeit arbeiten oder dir – basierend auf deinen finanziellen Mitteln – eine zeitliche Grenze setzen: Wenn es bis Zeitpunkt x finanziell nicht so läuft, dass ich davon leben kann, dann lass ich mich wieder anstellen.

Mythos 7: „Ich bin nicht der Typ dafür!“ Es stimmt: Manche Persönlichkeitseigenschaften sind förderlich für die Selbstständigkeit. Aber es geht nicht darum, ein bestimmter „Typ“ zu sein. Es geht darum zu verstehen, wie du tickst, wo deine Stärken liegen und wo du möglicherweise Unterstützung brauchst. Introvertiert? Kann in der Selbstständigkeit sogar ein Vorteil sein. Perfektionist? Lernst du halt, wann „gut genug“ gut genug ist. Persönlichkeitstest wie der LINC Personality Profiler bieten einen guten Einblick und das Tiefenprofil „Gründung“ kann dir helfen, deine Stärken und Herausforderungen für die Selbstständigkeit vorab zu antizipieren und erste Strategien zu entwickeln.

Das Forscher:innen-Mindset: Der Schlüssel zu einer durchdachten Entscheidung

Nach 15 Jahren als UX Researcherin weiß ich: Die besten Entscheidungen trifft man nicht aus dem Bauch heraus oder basierend auf dem, was andere erzählen. Man trifft sie, indem man systematisch erforscht, was für einen selbst stimmt.

Das bedeutet konkret:

Neugierde statt Annahmen: Anstatt zu glauben, was dir andere über Selbstständigkeit erzählen (egal ob positiv oder negativ), werde neugierig auf deine eigene Situation. Was sind deine tatsächlichen Motive? Was sind deine echten Bedenken?

Daten statt Gefühle: Klar, Gefühle sind wichtig. Aber sie sollten nicht die einzige Grundlage für so eine wichtige Entscheidung sein. Wie sieht deine finanzielle Situation wirklich aus? Welche Fähigkeiten hast du bereits? Was sagen Menschen, die dich gut kennen?

Prototyping statt Perfektion: Du musst nicht den perfekten Plan haben, bevor du loslegst. Aber du kannst kleine Experimente machen. Wie wäre es mit einem Nebenprojekt? Oder einem Sabbatical, in dem du deine Idee testest?

Alle Optionen auf dem Tisch: Selbstständigkeit ist nicht die einzige Lösung für berufliche Unzufriedenheit. Manchmal ist ein Jobwechsel, eine Weiterbildung oder eine Veränderung im aktuellen Job die bessere Antwort. Das Ziel ist immer, herauszufinden, was für dich aktuell gerade am besten passt und sich rund anfühlt.

Iterieren statt alles auf eine Karte setzen: Deine erste Idee muss nicht deine letzte sein. Selbstständigkeit ist kein Schwarz-Weiß-Zustand, sondern ein Prozess, den du immer wieder anpassen kannst.

Deine persönliche Forschungsreise: Fragen, die wirklich weiterbringen

Wenn du gerade über Selbstständigkeit nachdenkst – egal ob du komplett angestellt bist oder schon nebenberuflich selbstständig –, dann beginne mit diesen Forschungsfragen:

1. Was ist dein echtes „Warum“?

Was nervt dich wirklich an deiner aktuellen Situation?

Welche Aspekte deiner Arbeit würdest du gerne mehr/weniger haben?

Welches Problem willst du durch Selbstständigkeit lösen – und ist das realistisch?

2. Wie tickst du wirklich?

In welchen Situationen warst du bisher erfolgreich?

Was brauchst du, um produktiv zu sein? (Struktur? Freiheit? Austausch?)

Womit tust du dir schwer – und wie könntest du damit umgehen?

3. Was ist deine Ausgangslage?

Wie viel Geld brauchst du zum Leben?

Wie viel hast du zurückgelegt?

Welches Netzwerk hast du bereits?

Welche Fähigkeiten kannst du direkt monetarisieren?

4. Was sind deine echten Optionen?

Könnte ein Jobwechsel, eine neue Rolle oder mehr Verantwortung im aktuellen Job deine Unzufriedenheit lösen?

Falls Selbstständigkeit: Wie könntest du deine Idee mit minimalem Risiko testen?

Was würde dir zeigen, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast – egal ob angestellt oder selbstständig?

Das ist erst der Anfang

Selbstständigkeit ist keine Ja-oder-Nein-Entscheidung, sondern ein komplexes Entscheidungsfeld mit vielen Variablen. Und manchmal ist die beste Antwort auch einfach: „Nein, nicht jetzt“ oder „Nein, aber ich verändere etwas anderes.“

Die gute Nachricht: Du musst es nicht alleine durchdenken.

Ich plane gerade einen Workshop, in dem wir gemeinsam durch einen strukturierten Prozess gehen, um herauszufinden, ob und wie berufliche Veränderung für dich funktionieren könnte – ob das nun Selbstständigkeit bedeutet oder eine andere Form der Veränderung. Es geht nicht darum, dich zur Selbstständigkeit zu überreden, sondern darum herauszufinden, was wirklich zu dir passt. Nicht mit rosa Brille, nicht mit Panik, sondern mit dem nötigen Forscherinnen-Mindset und einer guten Portion Pragmatismus.

Falls dich das interessiert, melde dich gerne bei mir über LinkedIn oder per E-Mail. Ich sammle gerade Interessenten und informiere dich, sobald es konkrete Termine gibt.

Und bis dahin: Bleib neugierig auf dich selbst. Die beste Entscheidung ist die, die zu dir und deiner Lebenssituation passt – nicht die, die auf LinkedIn am besten aussieht.

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